Was legitimiert mich, zur Einfuehrung einer Lesung des Autors des heutigen Abends zu sprechen? Nichts, als dass ich ein engagierter Leser der literarischen Arbeiten von Helmut Zwanger bin. Und die Tatsache, dass ich einmal meine Leseerfahrungen in Form eines Vorworts zum letzten Gedichtband so mitteilen konnte, dass andere Leserinnen und Leser dies als hilfreich empfanden. So entstand die Idee, am heutigen Abend noch einmal das Wort zu nehmen - im Sinne der stellvertretenden Mitteilung von Leseerfahrungen. Denn dieser Abend soll dem literarischen Werk von Helmut Zwanger dienen, anlaesslich der Verabschiedung aus dem Pfarrdienst in wenigen Wochen. Nicht um einen Abschied vom Lyriker kann und soll es gehen, sondern im Gegenteil: das literarische Werk soll noch einmal neu in den Blick genommen werden. Eine kleine Zwischenbilanz ist moeglich im Blick auf die Gewinnung neuer Leserinnen und Leser.
Die bisherige literarische Bilanz lautet "Israel, o Israel" (1994), "Licht und schlicht wann?" (1998), "Wort. Wo bist Du?" (2000) und juengst "morgenlicht" (2004). Vier schmale Gedichtbaende von Helmut Zwanger in zehn Jahren. Das ist viel, bedenkt man sein Selbstverstaendnis als Lyriker, sein Verfahren beim Schreiben, seinen Umgang mit dem Wort: Denn im Verlauf der literarischen Arbeiten ist das Bemuehen um immer strengere Wortverknappung, Wortverdichtung unverkennbar. Die Texte werden immer kuerzer, karger, lapidarer. Vielzeilige, vielstrophige Texte im ersten Band. Im letzten alles verdichtet auf oft nicht mehr als drei, vier Verse. Was mag hier alles ausgeschieden, gar nicht aufgenommen worden sein? Auf wie viel ist bewusst verzichtet worden? Wieviel hat er sich und uns er-spart? Gezwungen hat er sich zu immer radikalener Reduktionen. Nur kein Wort zu viel. Nur die Geschwaetzigkeit vermeiden. Nur der Wortinflation wehren.
Zieht man Vergleichslinien durch die Baende, merkt man schon formal und stilistisch Unterschiede. Ein Beispiel steht fuer viele. Im ersten Gedichtband "Israel, o Israel" bereits ein Passionsgedicht. Es steht unter dem Titel "Am Oelberg und im Garten Gethsemane". Es lautet
:
Rings von Bergen umhegt
zum Kidron hinab
in einem Garten
Olivenbaeume,
aus greisenhaftem Strunk
wachsen Gerten hartbelaubt.
Gegenueber
ragt zinnenbewehrt das Mauerwerk hoch
unueberwindlich.
Und doch
siegt der Leidende
noch immer.

Zunaechst der weit ausholende, umkreisende Blick auf Landschaft und Lokalitaet. Der Garten Gethsemane liegt ja bekanntlich auf dem Huegel gegenueber der Altstadt von Jerusalem, deren Mauerwerk in der Tat "hoch/unueberwindlich"scheint. Dazwischen der Kidron-Bach. Einkreisend beginnt alles, weit ausholend, bewusst den Sprechduktus verlangsamend, um dann erst die Pointe zu setzen. Unueberwindlich? "Und doch/siegt der Leidende/noch immer". Im letzten Gedichtband "Morgenlicht" dasselbe Thema in reduziert knappster Form. Fuenf Zeilen, die sofort die Pointe liefern:

Mit Dir
aelterer Bruder

Beten

Adonai
Abba-Schrei

Solche und ungezaehlte andere Texte zeigen einen Sprach-Arbeiter, der erkennen laesst, dass das Wort Dichtung weniger mit Erfindung als mit Verdichten zu tun hat. Wenn es einen Autor deutschsprachiger Literatur gegenwaertig gibt, der den Mut hat, seine "Verse" sogar auf einzelne Worte zusammenzuziehen, seine "Strophen" auf Wortkerne zu verknappen, dann Helmut Zwanger. Das ist fuer jemanden, der wie er als Pfarrer zu predigen und zu verkuendigen hat, alles andere als selbstverstaendlich. Aber er kennt den Unterschied genau. Weil er den Wortinflationisten, ob auf Kanzel oder Katheder, misstraut, zwingt er sich - wenn er Texte schreibt - zur Selbstzuruecknahme, zum freiwilligen Wortverzicht. Nicht aus Einfallslosigkeit, sondern aus Hochachtung vor der Sprache, aus Scheu vor den großen Worten, aus Respekt vor "dem Wort". Hier kann er (gerade als protestantischer Theologe) an die Reformation anknuepfen, weil er weiß: Gerade sie hat aufs Neue der Kraft des unverbrauchten "Wortes" vertraut. Reformation ist - so gesehen - nie ein abgeschlossener Prozess, sondern ein Auftrag. Nicht Archiv, sondern Anfang. Zwangers acht Worte zum Stichwort "Reformation" sind denn auch Herkunftsbestimmung und Zukunftsauftrag zugleich:

Noch einmal
den Anfang
wagen

in heutiger
Zeit

Noch einmal / den Anfang / wagen// in heutiger / Zeit : Das bedeutet Sensibelwerden für Veraenderungsschuebe im Verlauf einer dreitausendjaehrigen Religionsgeschichte. In diesen dreitausend Jahren sind Judentum, Christentum und Islam entstanden. Zwangers Texte sind gerade auch in dieser Hinsicht Spurensuche, Spurenwahrnehmung, Spurendeutung. Die lyrische Verdichtung des Themas "Israel" in seinen Texten ( vor allem in den ersten beiden Baenden), die immer wieder neu beschworene Vergegenwaertigung der uralten juedischen Topographie von Kirjat-Arba bis Massada, die eindringlichen Zwiegespraeche mit den Toten der deutsch-juedischen Geschichte, sei es Else Lasker-Schueler oder Nelly Sachs, wird immer wieder verbunden mit der Deutung großer christlicher Gestalten und der Praesenz des Islam, gerade in dem Land, in dem wie nirgendwo sonst brennspiegelartig die Energien von Judentum, Christentum und Islam sich buendeln. Wer koennte heute noch nach Nazareth fahren und dieses Energiefeld zwischen Kirche, Synagoge und Moschee nicht wahrnehmen? Zwanger tut es auf eine fuer uns exemplarische Weise. Seismograhpisch werden in seinen Texten Spannungen registriert und weitergegeben. "Nazareth":

Freitags folgen Menschen
dem Muezzin in die Moschee
am selben Abend
wenden sich andere
ehrfuerchtig der Schabbatin zu
und am Abend des Sabbats
neigen sich Haeupter
zum sonntaeglichen Oeffnungsgebet.
Unter der Woche
in beaeugender Distanz
mit vergiftendem Blick
aber ohne die steinewerfende Hand.

Vier Gedichtbaende. Sie bieten jetzt die Chance, Linien zu verfolgen, Motivstraenge wahrzunehmen und auszudeuten. Ich waehle unter den vielen Moeglichkeiten den Motivstrang "Abraham", um Ihnen das Verfahren Zwangers zu verdeutlichen. Schon im ersten Gedichtband "Israel, o Israel" (1994) eine Anspielung auf Abraham. Typisch fuer das Schreibverfahren dieses Autors ist die topographische Verortung, die ueber zitathafte Fingerzeige symbolische Signifikanz erhaelt. "Kirjath-Arba" heißt das Gedicht. Gemeint ist der Ort, an dem Abraham, Stammvater der drei Religionen Judentum, Christentum und Islam, begraben liegt - auf dem einzigen Stueck Erde, das er je kaeuflich erwarb und sein Eigen nennen konnte: in der Hoehle von Machpela. Heute erhebt sich darueber eine alte Kreuzfahrer-Kirche, genutzt als Moschee und Synagoge. Auch hier registriert Zwanger sensibel ein Spannungsfeld:

Moschee und Synagoge
eintraechtig beieinander
hinter dem Grab von Machpela.
Draußen bewehrt
verzaeunt
scharf bewacht
ghettogleich abgewuergt Hebron
fuer einen Stein gesprengtes Haus
in Gefaengnisse Soehne gebannt.
Verheißener Segen erstickt:
Alle Geschlechter der Erde
werden sich Segen wuenschen
in deinem Namen.
Statt dessen
hoert Fluch auf Fluch.

Welch eine Geschichte gerade heute rund um den Mann, der hier begraben liegt. An Abraham erinnern heißt die Trauergeschichte von Juden, Christen und Muslimen erinnern, die sich an keinem Ort bedrueckender verdichtet als ausgerechnet am Abraham-Ort schlechthin: Hebron, Machpela. Statt Segen - Fluch. Statt Miteinander der Kinder Abrahams - bis auf die Zaehne bewaffnetes Gegeneinander. Statt Familienzusammengehoerigkeit - ghettohafte Abschließung.
Dieses Wechselspiel nimmt Zwanger in seinen Texten immer wieder wahr: das einst Versprochene und das jetzt Realisierte. Den Ur-Sprung und den Ab-Grund. Er glaubt noch an den Segen. Er ist nicht zum Zyniker mutiert - angesichts der real existierenden Konfliktgeschichte der Religionen. Er haelt an den Verheißungen fest. Aber in seinen Texten notiert er lapidar, ohne alle Aufgeregtheit, ohne einen Anflug moralisierenden Pathos` Widersprueche, Absurditaeten, groteske Verzerrungen. Dem Verrat der Segensgeschichte stellt er Widerstandstexte entgegen, die so unaufdringlich wie unerbittlich auf der Einloesung des Verheißenen insistieren.
Im zweiten Gedichtband von 1998 eine weitere dramatische Spiegelung Abrahams. Diesmal nicht in Palaestina, nicht in Hebron, sondern in Spanien, in Cordoba. Der Gedichtband "Licht und schlicht wann" von 1998 wird eroeffnet mit 14 Texten eines Zyklus ueber Andalusien, motivgeschichtlich singulaer in der deutschen Literatur. Al-Andalus: das Land jahrhundertelanger Mischungen und Vermischungen von Juden, Christen und Muslimen.
Welch eine Geschichte im Zeichen von convivencia und reconquista, gespiegelt in den Orten wie Sevilla, Cordoba, Granada, Santiago de Compostella.
Welch einzigartige Geschichte gerade auch des Judentums. Mosche Ben Maimon, der groeßte juedische Theologe des Mittelalters, stammt aus Cordoba, wird 1135 hier geboren. Seine Lebensgeschichte spiegelt die Dramatik des Mit- und Gegeneinander von Juden, Christen und Muslimen in Spanien. 1148 flieht seine Familie vor Religionsverfolgungen durch die Almohaden. Philosoph und Arzt, der er ist, haelt er sich zunaechst an wechselnden Orten in Spanien auf, dann in Fes und Acco, bevor er sich 1165 in Kairo niederlaesst, 1204 dort stirbt. Sein Leichnam soll in Tiberias bestattet sein, wo man heute noch sein Grab zeigt. Abraham-Schicksal wiederverkoerpert in einem großen juedischen Gelehrten. Zwanger spielt darauf an in seinem Gedicht "Maimonides", eine beruehrbare Statue des großen Cordobresen ind Cordoba vor Augen:

Cordobese von Geburt
Tiberianer im Tod
umspannt
dein Gott
bis ins tausendste Geschlecht
erneuerten Bund
und Segen
wuenscht sich
wer deinen Schuh
beruehrt

Maimonides, geboren in Cordoba, gestorben in Tiberias. In der Spannweite dieser Geschichte ereignet sich juedische Existenz, die sich auf den Weg Abrahams gemacht hat - im Zeichen des erneuerten Bundes, des Segens fuer Volk und Voelker. Zwanger beschwoert sie in diesen vierzehn ergreifenden Zeilen. Er hat eine Sensiblilitaet fuer die Vernichtungs- und Vertreibungsgeschichte auf europaeischem Boden, die Juden und Muslime zu Hunderttausenden in den Tod oder ins Exil trieb. Seine Texte sind Trauerarbeit an dem, was der spanische Gegenwartsautor Juan Goytisolo einmal die "Selbstverstuemmelung" Europas nannte durch die Austreibung von Juden und Muslimen aus Spanien. Besonders Cordoba ist fuer den Glanz und das Elend dieser Geschichte ein einzigartiger Symbolort. Hier steht La Mezquita, die uralte Moschee, eine der groeßten und schoensten in der Welt des Islam. Sie gilt mit ihren gewaltigen Ausmaßen und ihren Hunderten von kunstvoll gearbeiteten Saeulen als ein Wunderwerk der Baukunst. Als Raumorganismus aesthetisch vollkommen. Nach dem Sieg der Christen ueber die Mauren 1236 zunaechst unangetastet gelassen, wird diese Moschee auf dem Hoehepunkt der Reconquista, ab 1489, kurz vor der Eroberung Granadas, durch brutale Eingriffe in eine christliche Kathedrale verwandelt. Ein halbes Jahrtausend dauert dieser Zustand.
Zwanger ist nicht der erste Schriftsteller der deutschen Literatur, fuer den der Zustand dieses Bauwerks Anlass ist zur kritischen Aufarbeitung der eigenen triumphalen Verdraengungsgeschichte im Christentum. Heine gehoert hierher mit seinen andalusischen Gedichten. Auch Rainer Maria Rilke, der beim Anblick dieser verschandelten Moschee einen Anflug von einer "beinahe rabiaten Antichristlichkeit" bekommt. Zwangers Text "Mezquita in Cordoba" zwingt sich zur Lakonie (ich kenne kein zweites Cordoba-Gedicht in der deutschen Lyrik nach 1945 mit diesem inhaltlichen Fokus):

Palmenwald
geordnet von weiser Hand
huetet die Vielfalt
der Welt.

Byzantinisches Glasgold
blueht in das Gebet
hinein.

Ausgebrochen
verschanzt sich
hinter ihren Mauern
die Kirche
bezwungene Bezwingerin.

Wir verfolgen die Abraham-Spur ein drittes Mal. Im Gedichtband "Wo bist Du?" (2000) nur drei Zeilen unter dem Titel "Abraham":

Dein Ruf

schoepferisch
zu beginnen

Dein Ruf: Zeilenbruch, Strophenbruch. Die beiden Woerter duerfen ausschwingen. Dieser Autor beherrscht die Kunst der Selbstverlangsamung durch kalkulierte Abbrueche, die Kunst der mitkomponierten Pausen, die den Worten ihr Gewicht zurueckgeben. Er ist ein Widerstaendler gegen die rasch verspielten Saetzen, rasch sich verfluechtigenden Worte, die rasch verbrauchte Sprache. Dein Ruf: Zeilenbruch, Strophenbruch. Schoepferisch, Zeilenbruch. Zu beginnen: Ende des Textes. Diese fuenf Worte genuegen aber auch, um das Wesentliche des Abraham-Ereignisses in Erinnerung zu rufen. Abrahams Glauben bedeutet "Aufbruch", schoepferischer Anfang. Schaut man die Ur-Texte, faellt denn auch auf, wie sehr Gottvertrauen bei Abraham mit Auf-dem-Weg-Sein identisch ist. Beginnt doch seine Geschichte nicht zufaellig mit dem programmatischen Wort "zieh weg". Zieh weg "aus deinem Land und deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus". Seither zieht Abraham, wie er spaeter selber sagen wird, "ins Ungewisse, ins Offene einer Zukunft mit all ihren Unabwaegbarkeiten. Darauf wollen Zwangers fuenf Abraham-Worte hinaus.
Abrahams Geschichte steht damit im Gegensatz zu der eines anderen großen Wanderers der antiken Kultur, Odysseus, der am Ende nach Ithaka, sein Heimatland, zurueckkehren durfte. Anders Abraham. Er verlaesst sein Vaterland "fuer immer", um "nach einem unbekannten Land aufzubrechen", ohne Aussicht auf Rueckkehr. Steht Odysseus archetypisch fuer eine Lebensbewegung zurueck ins Selbe und Bekannte, so Abraham fuer eine Lebensbewegung ins Offene und Unbekannte. Die Schluesselworte seiner Existenzform lauten denn auch: weggehen, auswandern, herumziehen, aufbrechen, weiterziehen.Darauf spielt Zwanger an in seinem letzten Abraham-Text, im Gedichtband "Morgenlicht" unter dem Titel "Olympisches und Abrahamisches Ideal":

Die Geburt der Venus
Zeitlos schoen
Schoen
Ein gelebtes Leben

Aufglanz des
Lebens

Zwangers Texte sind Ausdruck eines gelebten Lebens. Ihre Schoenheit bewahrt sich als Niederschlag von Lebens-Erfahrungen. "Lyrik" im traditionellen Sinn sind diese Texte nicht mehr. Denn lyrisches Sprechen hat sich hier verknappt, fast voellig zur aphoristischen Rede. Gedicht und Aphorismus werden bei Zwanger austauschbar. Stehen bleiben nur Worte, die dem Schweigen Widerstand geleistet haben. Wort, Wortkerne, die wie Inseln aus dem Meer des Schweigens herausragen. Unter dem Titel "Sprache" lesen wir denn auch im letzten Gedichtband:

Ich brach
Das Schweigen

In seine Teile

Aber nur weil er das Schweigen bricht, wird dieser Autor zum Mitteilenden, zum Austeilenden. Dass er aber das Schweigen bricht, hat mit seiner Liebe zur Sprache zu tun. Der Sprach-Arbeiter Zwanger ist zugleich ein Sprach-Erotiker, ein Sprach-Verliebter, der Worte behandelt wie Preziosen. Was er uns also austeilt in seinen Texten, ist Schweigen als gebrochenes Wort, sind Worte als gebrochenes Schweigen - alles dann doch auch in letzter Konsequenz "Zur Ehre Gottes":

Ersehnte Perlen.
Sieh das Sandkorn
An!

Um ein einziges
Sandkorn
Perlenmilch

Wir haben in Theologie und Literatur nicht viele seiner Art. Nicht viele Doppelbegabungen vom Format eines Helmut Zwanger. Grenzgaenger zwischen Poesie und Pastoral wie er sind hoechst selten. Seien wir deshalb dankbar, dass es ihn gibt. Was wuenschen wir uns? Was wuenschen wir ihm? Was sonst als weitere Texte. Und wenn`s hoch kommt, weitere vier Gedichtbaende in den naechsten zehn Jahren.

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