Rezensionen Schwaebisches Tagblatt 02/2002


Das besonders fuer Juden bis heute unerklaerliche Neben- und Miteinander von humanistischer Genialitaet und moerderischer Bestialitaet in der deutschen Geschichte schlaegt der Dichter auf die ihm eigene, fast plakative
Weise an: ANSCHRIFT // Goethe in Weimar / bei Buchenwald.
Dass Helmut Zwanger nicht allein die unvermischte Gedankenlyrik zur Koenigsform erhebt, sondern ebenso einen immer dem Thema hinzugewogenen Bildreichtum erfindet, dafuer stehen Zeilen wie diese: SCHIENEN // Laengst / ausgewechselt // im Gleisbett / wacht die Trauer / bis ans Ende / der Welt.
Mit derartiger Unbedingtheit macht es sich ein Theologe in Deutschland, in seiner Gemeinde und nachgerade in seiner Kirche nicht leicht. Zeigt aber darin, dass nur so der ueberlieferten Schwere wenigstens ein Jota an Gewicht genommen werden koennte: BIBEL - ZWEI TESTAMENTE // Daß ich / in eurer Bibel / zu Hause bin / so gueltig / so ganz // das brauchte / das zweite Testament.
Gaebe es hierzulande mehr von diesem inneren christlich-juedischen Dialog des Einzelnen in dieser Klarheit und Wahrhaftigkeit, das Gespraech wuerde vielleicht, nach außen gefuehrt, Christen und Juden wirklich als Gleichberechtigte nicht nur vor dem Einen Gott erkennbar werden lassen. Das hoffend, kann der Leser nach der Lektuere dieser Gedichte besserer Dinge sein: REFORMATION // Noch einmal / den Anfang / wagen // in heutiger / Zeit.
Matthias Hermann










Matthias Hermann, Bio- und Bibliographie

1958 in Bitterfeld (DDR) geboren und in Ostberlin aufgewachsen. 1978 Berufsausbildung zum Schriftsetzer und Korrektor. 1978 Inhaftierung und Verurteilung zu 2 Jahren und 4 Monaten Strafvollzug wegen politischer "Straftaten". Nach einem Jahr amnestiert. 1980 Uebersiedlung in die BRD. Seitdem Broterwerb als Korrektor bei einer Tageszeitung. Ab 1989 im hessischen Odenwald lebend.

1989 - "72 Buchstaben", Gedichte, Suhrkamp Verlag, Frankfurt
1989 - 1994 Veroeffentlichungen in div. Tageszeitungen und Literaturzeitschriften, u.a. "Hessischer Literaturbote", "Frankfurter Allgemeine Zeitung", "Drehpunkt" (Schweiz), "Panorama" (Israel), "Die Palette"
1991 - in "Frankfurter Anthologie", Insel Verlag, Frankfurt, Hersg. M. Reich-Ranicki
1992 - in "Dein aschenes Haar Sulamith", Dichtung über den Holocaust, Piper Verlag, Muenchen, Hersg. Dieter Lamping
1992 - in "Juden in der deutschen Literatur", Piper Verlag, Muenchen, Hersg. Hans Schuetz
1994 - in "Juedischer Almanach", Juedischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Frankfurt, Hersg. Jakob Hessing (Leo Baeck Institut, Jerusalem)
1989 - 1994 div. Lesungen im In- und Ausland (DDR, Oesterreich, Goethe-Institut in Jerusalem)

 

Helmut Zwanger
"Wort. Wo bist Du?".
Gedichte. Verlag Kloepfer & Meyer in Tuebingen. 132 Seiten, 28,-Mark.
CHRISTLICH-JUEDISCHER SELBSTDIALOG
Der 58-jaehrige Dichter und evangelische Theologe Helmut Zwanger hat in seinem dritten Gedichtband zu einer ihm eigenen strengen Symbiose von Form und Inhalt gefunden.
Dass mitunter aller guten Dinge tatsaechlich drei sind, erkennt der gewissenhafte Leser an Zwangers Sprach- wie Gedankenweite auf engstem Versraum:
HEIMATLIEDER // Am Brunnen vor dem Tore / verschwiegenes Auschwitz // Im schoensten Wiesengrunde / Birkenau.
Guter Dinge indes kann man nach dieser Lektuere auf den ersten Blick nicht sein. Schonungslos treffend ist Zwangers, wie von einer Steinschleuder katapultierte Poetologie. Ihre Scharfkantigkeit erfaehrt sie aus dem Antijudaismus, der Shoah und den stetig aktuellen Versuchen des Wegdrueckens historisch-sittlichen Versagens: NICHTS // Nichts / gar nichts / haben / wir gewußt // lange schon / vor dem Nichts.
Zur scheinbar missverstaendlichen Walserrede und dem darauf folgenden unmissverstaendlich entlarvenden Interview in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" dichtet Zwanger: SCHLUSSVARIANTE // Es muß / nicht alles gesuehnt / werden // verneinen / die im Grab / in den Erden / verweinen / die im Grab / in den Lueften // warten und erwarten.
Bedenkt man darueber hinaus den gegenwaertig fast beliebigen Sprachgebrauch im Alltag wie in mancher modern genannter Dichtung, die doch nur ein mehr oder weniger virtuoses Jonglieren mit Wortblasen ist, so verweilen diese Gedichte in sich selbst, als seien sie aus einer verlorenen Zeit, da das Wort noch auf die letztmoegliche subjektive Genauigkeit hin abgewaegt und wie in Stein gemeißelt wurde: WER EINEN MENSCHEN RETTET // Ja / wer einen Toten / rettet // rettet / die ganze Welt.

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